Kartoffeln schälen (aus „Farben in wechselndem Licht“)

  Sie hatte ein schlechtes Gewissen. Immer noch. Obwohl seitdem fünfzehn Jahre vergangen waren.

  Damals hatte sie gerade Kartoffeln geschält, als das Telefon klingelte. Gut, dass ich die noch nicht aufgesetzt habe, hatte sie auf dem Weg zum Apparat gedacht, daran erinnerte sie sich noch genau. Ärgerlich war sie trotzdem gewesen, denn an diesem Abend wollte sie wie jeden Mittwoch mit ihrer Freundin ins Kino gehen. Dass er nicht früher anrufen kann! Weiß man doch vorher, wenn’s länger in der Firma dauert! Und ich? Muss ich Claudia jetzt absagen, nur weil der Herr darauf besteht, dass wir zusammen essen?

  „Du, ich komme etwa eine Stunde später“, waren seine letzten Worte gewesen.

  Nein, sie hatte kein schlechtes Gewissen wegen ihrer Wut auf ihn gehabt, weil er grundsätzlich erwartete, dass sie ihre Bedürfnisse klaglos seinem Diktat unterordnete. Dagegen quälte sie ein schlechtes Gewissen wegen ihres ersten Gedankens, nachdem die Haustür damals wohl zwei Stunden später ins Schloss gefallen war.

   Er war ein Prinzipienreiter gewesen, und sie hatte recht, ihm Egoismus vorzuwerfen, damals wie heute noch. Immer musste um neunzehn Uhr warm gegessen werden. Auf die Minute pünktlich. Sonntags um halb eins. Ihretwegen wurden nie Ausnahmen gemacht, seinetwegen nicht nur, wenn der Beruf es erforderte.

   Also schälte sie jeden Tag Kartoffeln, denn die gehörten für ihn zum Abendessen unabdingbar dazu. Außer dienstags, dann gab es Suppe. Am Anfang ihrer Ehe hatte sie es auch mit Nudeln und Reis versucht. Doch als sie Spaghetti Carbonara servierte, hatte er gesagt: „Ich weiß, du meinst es gut, aber ich mag keine Nudeln. Das hättest du wissen können.“ Beim ersten und einzigen Mal, als sie Reis auf den Tisch gestellt hatte, war er aufgestanden, hatte die Küche wortlos verlassen und war in ein Restaurant gegangen.

   Seitdem gab es sechs Mal die Woche Kartoffeln zu Fleisch oder Fisch mit Gemüse oder Salat. Immer Salzkartoffeln, nie Pellkartoffeln, Kartoffelpüree, Kartoffelsalat, schon gar nicht Pommes frites oder Kartoffelgratin. Nicht einmal Bratkartoffeln, weil sie die tägliche Menge an Kartoffeln exakt abzuwiegen hatte und nie ein Rest blieb, aus dem Bratkartoffeln hätten werden können. Reste hasste er grundsätzlich, und Bratkartoffeln waren sowieso zu fett für seinen empfindlichen Magen. Also schälte sie jahrein, jahraus tagtäglich 350 Gramm Kartoffeln; für ihn 200 und für sich 150 Gramm. Das waren, je nach Größe, vier bis fünf Kartoffeln. Immer Sorte Sieglinde, festkochend, geviertelt und mit einem Teelöffel Salz zwanzig Minuten in einem extra dafür bestimmten Topf zu kochen, dem Hochzeitsgeschenk seiner Oma. Von ihrer Schwiegermutter hatte sie zur Eheschließung ein an der Spitze leicht gebogenes spezielles Kartoffelschälmesser geschenkt bekommen, inklusive einer ausführlichen Unterweisung, wie man eine Kartoffel perfekt schält. Sechs Mal die Woche, siebzehn Ehejahre lang schälte sie um viertel nach sechs Kartoffeln in der kleinen Küche der Zweizimmerwohnung, in der Kinder keinen Platz gehabt hätten.

  Auch an jenem Tag im November, als es – wie jetzt auch – unerwartet in der frühen Abenddämmerung an der Haustür geklingelt hatte. Heute zuckte sie nicht mehr zusammen. Damals hatte sie überrascht auf die Küchenuhr geschaut, die ihr wohl ein Leben lang beim Kartoffelschälen zusehen würde. Bilder und Erinnerungen an jenen Besuch stiegen unvermeidlich in ihr auf, wenn ein unerwartetes Klingeln an der Haustür sie aus ihrer Gedankenverlorenheit riss. Jedes Mal empfand sie wieder Scham wegen dieses ersten klaren, unauslöschbaren Gedankens, nachdem die beiden Herren gegangen waren.

   Heute stand nur ein Bote vor der Tür, der fragte, ob sie ein Paket für die Nachbarin annehmen könne. Damals hatten zwei Polizisten darum gebeten, eintreten zu dürfen. Sofort hatte sie gewusst, dass ein Unglück geschehen war. Die Männer in Uniformen hatten sehr ernst ausgesehen, ruhig und fest gesprochen, mit ihren Dienstmützen in den Händen. Die ersten Sätze hatte sie noch verstanden, bevor alles in ihr in einem Wirbel aus Schrecken, Angst und Hilflosigkeit verschwommen war. Aber auch ganz fremde, sonderbare Gefühle, die sie später nicht zu benennen gewusst oder gewollt hätte, hatten sich mit Wörtern und Satzfetzen der beiden Besucher bruchstückhaft und wie aus weiter Ferne gemischt: Liebe Frau … ein Unfall … Ihr Mann … gegen einen Lkw … rutschige Fahrbahn … Ölspur … oder Alkohol vielleicht? … Krankenwagen … Notfallarzt … Krankenhaus … so schnell es ging … aber leider … schon auf dem Weg … jede Hilfe kam zu spät … unser tiefes Beileid … psychologische Hilfe … haben Sie Kinder, Angehörige …?

   Wie oft hatte sie versucht, sich exakt an die Worte der Polizisten zu erinnern. Ohne Erfolg. Wozu auch? Wie ein gewaltiger Hieb war es gewesen, der ihr Gehirn gelähmt, ihr Denken blockiert, ihren Verstand narkotisiert hatte. Dieses Brausen im Kopf! Das war das Erste gewesen, an das sie sich mit Sicherheit erinnern konnte, dieses Brausen! Und an ihr Hin-und-her-Laufen durch die ganze Wohnung bis zurück in die Küche, wo sie, nachdem die Haustür ins Schloss gefallen war, den ersten klaren Gedanken gefasst hatte: Jetzt – sofort! – reiße ich die Küchenuhr von der Wand. Und morgen koche ich mir Reis.  

© Joachim Frank